Der erste Beitrag zum Thema Fake-News und der erste Beitrag zum Thema „Journalismus und Kunst“, der Epoche geschrieben hat.

Ein Kommentar zu: Johan Schloemann, Zum Heulen Schön. Die Ausstellung „After the Fact“ in München handelt von der Propaganda der Gegenwart – und führt vor, warum die Kunst nicht einfach mit Gegenpropaganda zurückschlagen kann. In Süddeutsche Zeitung, Feuilleton, Freitag, 2. Juni 2017, Nr. 126, Seite 9.

Zum Heulen schön

Die Ausstellung „After the Fact“ in München handelt von der Propaganda der Gegenwart – und führt vor, warum die Kunst nicht einfach mit Gegenpropaganda zurückschlagen kann

VON JOHAN SCHLOEMANN

Mitten im amerikanischen Wahlkampfsommer und auf einem Höhepunkt der europäischen Populismus-Angst 2016 hat das Lenbachhaus in München eine Ausstellung über „Propaganda im 21. Jahrhundert“ in Angriff genommen. Einen Tag vor der Wahl von Donald Trump beschloss man den Titel: „After the fact“. Und jetzt wurde die Ausstellung im unterirdischen Kunstbau des Museums eröffnet, zur selben Zeit, als der neue französische Staatspräsident seinen Gast aus Moskau öffentlich über den Unterschied von Journalismus und Propaganda belehrte. Nun läuft die Schau mit Werken, die nach der Jahrtausendwende bis soeben entstanden sind, bis zur Woche vor der Bundestagswahl.

Das klingt nach Schnellschuss, nach heißer Phase, vielleicht sogar Notwehr, und nicht gerade nach Autonomie der Kunst. Zur Erinnerung: Kunst hat sich immer dagegen gewehrt, bloß als Nachahmung der Wirklichkeit verstanden zu werden; sie verdoppelt nicht die Realität und illustriert sie auch nicht einfach.

Aber genau dieser Fehler wurde hier erfreulicherweise auch nicht gemacht. Ein Ausdruck der Zeit ist „After the fact“ wohl, aber keine Zeitgeschichtsausstellung. Es sind keine Kunstwerke mit gelben Haartollen und überlangen Schlipsen zu sehen, auch keine reine Aneinanderreihung von Gegendarstellungen. Manipulationen, leere Versprechungen, die Verwirrungen zwischen Authentischem und Inszenierung – alles das gibt es schon länger, das weiß man eigentlich und erfährt es hier auch am eigenen Leib, allein schon durch einen bewusst unübersichtlichen Aufbau. Die Kunstkapitel sind mit Stoffbahnen voneinander abgegrenzt, in den Übergängen dazwischen findet man jeweils dokumentarische Stationen. Fakten und Fiktionalität ergeben ein Gemisch, das mindestens so kompliziert ist wie die Wirklichkeit.

Zwar teilt die bildende Kunst mit der Propaganda die Lizenz zur gestischen Vereinfachung, und so gibt es in der Ausstellung auch einige Arbeiten mit klarer, auch plumper politischer Aussage. Zum Beispiel hat Wolfram Kastner ein deutsches Interieur unter dem Titel „Schöner Wohnen“ ganz in Tarnfarben gedeckt, um gegen Waffenexporte zu protestieren; und Julian Röder fotografiert die Kameras und Apparaturen zur Abwehr von Flüchtlingen an der EU-Außengrenze. Danke – Message verstanden. Man wird in der nächsten Woche in viel größerem Maßstab sehen, wie die Kasseler Documenta mit diesem Problem umgeht: Wenn sich Werke von dieser Art immer mehr häufen, dann sieht politisch sensible Kunst irgendwann längst nicht mehr aus wie die Nachfolge von Avantgarde und Aktivismus, sondern wie die Nachfolge der alten akademischen Historienmalerei, nur eben in kritischer Absicht.

Doch schon solche Kunst kann beim Betrachten uneindeutig werden, sich ästhetisch verselbständigen, ja eigene grausame Schönheit annehmen, und das gilt natürlich erst recht für diejenige, die es bewusst auf solche Effekte anlegt. Die Antwort auf „Propaganda im 21. Jahrhundert“ heißt für die Kunst weniger, jene direkt zu bekämpfen und/oder abzubilden, sondern das Spiel mit unserer Wahrnehmung immer neu und weiter zu treiben. Nah dran ist da etwa der amerikanische Künstler John Miller, vom dem neben dem grotesken Setting einer Quizshow eine Reihe von Bildern zu sehen ist, die jene Momente in Reality-TV-Sendungen festhalten, in denen echte oder vermeintliche Betroffene in echte oder erzwungene Tränen ausbrechen. Die scheinbare Veredelung solch mieser Augenblicke durchs Tafelbild rührt an Tiefenschichten unserer Kultur, und zugleich denkt man daran, dass ein Reality-TV-Star jetzt im Weißen Haus sitzt.

Direkter mit einem Monument der Propaganda, und dennoch nicht plump, arbeitet die New Yorker Künstlerin Aura Rosenberg. Sie hat die Berliner Siegessäule im Zustand vor deren Umsetzung und Aufstockung durch die Nationalsozialisten aus Teig und Kunststoff nachgebildet, gebräunt, wie mit Zucker überzogen, beinahe organisch wirkend. Sie spielt damit an das Vers-Motto an, das Walter Benjamin seiner „Berliner Kindheit“ voranstellte: „O braun-gebackne Siegessäule / mit Winterzucker aus den Kindertagen.“ Und bevor jemand meint, das sei ja typische Berliner DAAD-Stipendiatenkunst, hat Aura (!) Rosenberg sich danach noch einmal ironisch abgesichert und ihre Vor-NS-Siegessäulen als „fehlendes Souvenir“ in Serie gegeben.

Solche Differenzierungen fügen sich deshalb gut in die Wahrheitskämpfe der Gegenwart, weil ihre Schöpfer zwar letztlich meist auf der richtigen Seite zu stehen scheinen, aber auch auf eine Gefahr verweisen: dass nämlich aus der berechtigten empörten Reaktion auf „Fake News“ und „postfaktischen“ Populismus eine kämpferische Propaganda der Guten erwächst, die positivistisch eindeutige Wahrheiten behauptet. In der politischen Kontroverse will man darauf beharren; die Kunst kann aber auch zeigen, wie wir alle Vereinfachungen lieben und uns sehr gerne etwas vorspielen lassen, selbst da, wo wir meinen, Missstände aufzudecken.

Das heißt nun aber nicht, dass die Ausstellung „After the fact“ die ausgewählten Werke nicht auch zur neuen Qualität der Desinformation im digitalen Zeitalter in Beziehung setzen würde. Das tut sie, immer wieder recht geschickt, und nicht ohne Bewusstsein für die eigene Verstrickung des Kunstbetriebs. An einer Stelle wird die gefälschte Website gezeigt, auf der Aktivisten eine Mitteilung des New Yorker Whitney-Museums verbreiteten, wonach dieses sich von seinen kritikwürdigen Hauptsponsoren trenne und sich für diese entschuldige (was natürlich nicht geschah). Und auch konkrete politische „Fake News“ kommen vor, etwa die Informationspolitik der USA im Irakkrieg, schön kontrastiert mit Ausschnitten aus der Comicserie „Die Simpsons“, in denen der amerikanische Antikommunismus karikiert wird.

Propaganda im 21. Jahrhundert, das wird bei allem gewollten Durcheinander klar, ist nicht mehr Kommunikation mit Fahne, Plakat, Volksempfänger, nicht mehr das Einhämmern einer einzigen Botschaft an alle. Sie ist eher virales Marketing, „Nudging“ („Anstupsen“) und der Neusprech in Wirtschaft, Politik und Militär, den denn auch einige der gezeigten Kunstwerke aufwendig sezieren. Sie ist, wie es der kritische Soziologe Jacques Ellul 1962 beschrieb, „die Verbreitung einer Ideologie durch den gesellschaftlichen Zusammenhang, in der sie wirkt“. Und sie muss mit diversen Sehnsüchten in einer extrem ausdifferenzierten Gesellschaft rechnen: Dafür stehen symbolisch die seltsamen Communities, die sich gerne privat als Tiermaskottchen verkleiden, die „Furries“, die die Fotografin Carmen Dobre-Hametner in kunstvollen Tableaus abbildet.

Ob das nun ein Trost ist in Zeiten gezielter Irreführung? Jedenfalls versteht man etwas besser den Reiz einer „Lügenwelt der Konsequenz“ (Hannah Arendt), wenn man sich dieser Ausstellung aussetzt.

After The Fact. Propaganda im 21. Jahrhundert. Lenbachhaus München, Kunstbau, bis 17. September. Ein begleitender Theorie-Reader kostet 28 Euro. Info: www.lenbachhaus.de

Mark Siemons, Unsterblichkeit für Alle! Warum interessiert sich die Kunstwelt jetzt so sehr für den russischen Kosmismus? In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Feuilleton,
10. September 2017, Nr. 16, Seite 48.

Unsterblichkeit für alle!

Warum interessiert sich die Kunstwelt jetzt so sehr für den russischen Kosmismus?

Der Humanismus verliert mit sei­nem aus der Endlichkeit des Le­bens abgeleiteten Ethos in wei­ten Bereichen der Gegenwartskultur of­fenbar rapide an Plausibilität; der Weltbestseller „Homo Deus“ des Historikers Yuval Noah Hariri spricht schon nur noch in der Vergangenheitsform von ihm. Im Silicon Valley versuchen Inge­nieure einen sogenannten Transhumanis­mus zu verwirklichen, bei dem zahlungs­fähige Investoren ihre Gehirnsoftware auf eine Festplatte herunterladen und da­durch Unsterblichkeit zu erlangen hof­fen. Zu dieser radikal individualistischen, kapitalistischen (sie selber sagen: „libertä­ren“) und verkopften Vision gibt es nun auch eine östliche Alternative, die kollek­tivistisch, körperlich und auch ein biss­chen kommunistisch ist: der russische „Kosmismus“, der auf einen Ende des 19. Jahrhunderts in Moskau lebenden Bi­bliothekar namens Nikolai Fjodorow zu­rückgeht. Seit Jahren schon inspiriert die­se mystisch-szientistische Lehre, die Un­sterblichkeit tür alle Lebenden und To­ten fordert, zeitgenössische russische Künstler, nachdem sie vor hundert Jah­ren Anteil am Phantasiehaushalt der rus­sischen Revolution hatte („die obszöne Geheimlehre des sowjetischen Marxis­mus“ nannte sie Slavoj ŽiŽek einmal) und später in eher nationalistischen Krei­sen wiederbelebt wurde. Jetzt erreicht sie mit einer Ausstellung im Berliner Haus der Kulturen der Welt unter dem Titel „Art without Death“ eine neue Etappe auf ihrem Marsch in den westlichen Mainstream.

Unter demselben Titel erscheint im Verlag der in New York ansässigen Künstler-Website e-flux gleichzeitig ein Gesprächsband zum Thema, der auf dem Klappentext die Lage wie folgt be­schreibt: „Unsere Zeit wird mehr und mehr durch eine technische Imagination definiert, die auf Verjüngung und Un­sterblichkeit hinausläuft. Die ultimative politische Frage wird dann also sein: Wird die Biotechnologie zu ewiger Ju­gend und Langlebigkeit für eine reiche Elite führen oder zu Unsterblichkeit für alle?“ Indem metaphysische Fragen da erst auf technische und dann auf soziale und politische heruntergebrochen wer­den, wird die unverhohlene Esoterik des Sujets offenbar für den Kunst-Diskurs anschlussfähig. Für das Haus der Kultu­ren der Welt ist der Kosmismus darüber hinaus eine perfekte Veranschaulichung seines sich über mehrere Jahre hin erstre­ckenden Generalthemas „100 Jahre Ge­genwart“, das mit übersehenen Denk-und Kulturströmungen der Vergangen­heit Gegenwartsdebatten öffnen will.

Als der in New York lehrende Kultur­theoretiker Boris Groys den Eröffnungs­vortrag einer die Ausstellung begleiten­den Konferenz hielt, war das Auditori­um im Haus der Kulturen so überfüllt, dass das Referat über eine Videolein­wand auch in die Vorräume übertragen werden musste. Groys hatte zusammen mit dem Slawisten Michael Hagemeister schon 2005 im Suhrkamp-Verlag unter dem Titel „Die neue Menschheit“ einen Reader zu den Kosmisten vorgelegt. Die Grundidee von Fjodorows postum veröf­fentlichter „Philosophie der gemeinsa­men Tat“ war, dass die Menschheit mit Hilfe von Brüderlichkeit und Wissen­schaft in ein aktives Verhältnis zur Na­tur treten solle, um am Ende auch den Tod zu überwinden: Der technische Fortschritt sollte es möglich machen, alle bisherigen Generationen von Men­schen zur „Auferstehung“ zu bringen; den dafür nötigen Raum sollte die Besiedelung ferner Planeten schaffen (Fjodo­row gilt daher auch als ein Pate des sow­jetischen Raumfahrtprogramms). So steckt hinter der christlich-orthodoxen Sprache ein radikaler Atheismus, der das ewige Leben nicht auf göttliche Gna­de baut, sondern auf die kollektive An­strengung der Menschheit. Groys hielt für das Spezifischste am Kosmismus gar die Idee, dass der Mensch Gott werden soll.

Mit der Kunst im engeren Sinn verbin­det den Kosmismus vor allem Fjodorows Museumstheorie. Indem das Museum al­les Überlebte, Abgestorbene, Unbrauch­bare für die Zukunft aufbewahrt, ist es in Fjodorows Sicht das Symbol und zu­gleich der materielle Ort des Auferste­hungsprojekts; seine vornehmste Aufga­be ist es, Menschen zu sammeln. Groys leitet daraus die Bestimmung der Men­schen ab, selber Kunstwerke, Ready-mades zu werden; den Auferstehungsprozess könne man als eine Art Kuratieren beschreiben. Die Überwindung der Grenze zwischen Leben und Kunst laufe auf eine radikale Musealisierung des Le­bens hinaus.

Im dritten und letzten Teil der Video-Installation, die der russische Künstler und e-flux-Mitgründer Anton Vidokle nun in Berlin wie ein schwarzes Mauso­leum aufgebaut hat, flaniert man mit der Kamera durch Moskauer Museen und Archive wie das Zoologische Muse­um, die ehemalige Lenin-Bibliothek oder das frühere Revolutionsmuseum. Zu Fjodorow-Texten stellen Schauspie­ler die Wiederauferstehung einer Mu­mie dar. „Das Museum muss die Kraft haben, Tote wieder ins Leben zu rufen“, heißt es in einem Zwischentitel. Doch Vidokles Filme haben offensichtlich nicht den Ehrgeiz, bloß zu dokumentie­ren; als Kunst wollen sie selber Teil der Bewegung sein. In einem weiteren von Vidokles Videos wird immer wieder der Zwischentitel eingeblendet: „This is not a film“; das Video heißt vielmehr: „This is Cosmos“, und es schreibt der promi­nent in ihm vorkommenden Farbe Rot eine therapeutische Wirkung zu.

Neben diesem Beispiel einer aktuel­len Aneignung des Kosmismus findet sich in Berlin eine von Boris Groys kura­tierte kleine Ausstellung von Bildern aus der griechischen Sammlung George Costakis, die eine neue Möglichkeit an­bietet, die russischen Avantgardisten zu sehen. Was üblicherweise als reine Abs­traktion gedeutet wird, Iwan Kljuns Ge­mälde „Rotes Licht“ von 1923 etwa, könn­te im Zusammenhang des Kosmismus eben auch als Darstellung dessen gelten, was der Mensch der Zukunft sehen kann, auf einem anderen Planeten zum Beispiel. Solomon Nikritins „Wiederauf­erstehung einer Meldebeamtin“ von 1924 wiederum zeigt, was bei der Anthropotechnik auch schiefgehen kann: Die Frau hält ein Bein in der Hand, das am technologisch wiederbelebten Körper anscheinend keine Verwendung fand.

Der Kosmismus scheint heute nicht bloß als Metapher innerhalb des Kunstsystems zu funktionieren, sondern auch als Ausdruck der sich allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz verbreitenden Neigung, sich lieber an die Technik als an die Natur zu halten. Science Fiction avanciert zu einer Leitdisziplin der Kultur.

MARK SIEMONS Das Haus der Kulturen der Welt in Berlin zeigt bis zum 3. Oktober die Ausstellung „Art without Death“.